Trotz der unmenschlichen Weckzeit um 01.45 Uhr bin ich froh, aufstehen zu dürfen. Ich habe sehr schlecht geschlafen, im Zimmer war es zu warm und ich wohl zu aufgeregt, um vernünftig schlummern zu können. Auch mein Bruder und Oli klagen über den schlechten Schlaf und sind glücklich, dass es endlich losgeht. Gemeinsam mit ca. 20 anderen Bergsteigerinnen und Bergsteigern essen wir schnell was Kleines, denn mit leerem Magen komme zumindest ich nicht allzu weit. Dank der abendlichen Top-Vorbereitung sind wir die ersten, die draussen vor der Hütte bereit stehen. Kurz vor halb drei brechen wir auf, über uns scheint wunderschön der Vollmond und lässt die uns umgebenden Berge erleuchten. Eine mystische Stimmung, leider aus zeitlichen Gründen nicht fotografisch festgehalten. Ich werde die Monte-Rosa-Hütte aus diesem Grund sicher einmal ohne Gipfelziel besuchen. Aber jetzt will ich rauf, auf den höchsten Punkt der Schweiz!

Der Weg verläuft zunächst über Geröll, wir kommen sehr gut voran und erreichen nach exakt einer Stunde die „Obere Plattje“. Hajo ist zufrieden mit uns drei Gipfelaspiranten und meint, er müsse uns ausnahmsweise nicht schimpfen 😉 Puh, haben wir ja Glück gehabt!

Angeseilt und mit Steigeisen ausgerüstet betreten wir den Monte-Rosa-Gletscher. Wir folgen einer breiten Spur, fast schon autobahnähnlich. Der Schnee ist pickelhart, kein Einsinken wie noch zwei Tage zuvor beim Aufstieg zum Dom. Das schont die Kräfte enorm und wirkt auf mich motivierend. Nach 30 Minuten endet die erst noch breite Spur plötzlich, vor uns meterbreite Spalten, ab hier wird’s spannend. Die Stirnlampen werden allesamt auf volle Leuchtkraft geschaltet, nützt jedoch nichts. Wir sind auf die jahrelange Erfahrung und das Fingerspitzengefühl von Hajo angewiesen. Etliche Male höre ich unter meinen Füssen ein verdächtiges Knacken, das Runterleuchten in die Gletscherspalten lässt mich erschaudern. Gewaltige Schlunde tun sich auf.

Nach dem Gletscherlabyrinth kommen wir sehr gut voran. Hajo gibt einen guten Takt vor, mein Puls bleibt im geordneten Rahmen und mit jedem Höhenmeter werde ich etwas zuversichtlicher, das grosse Ziel zu erreichen. Einen zusätzlichen Motivationsschub erhalten wir alle durch den magischen Moment des Tagesanbruchs. Schlicht atemberaubend, wie sich förmlich beobachten lässt, wie der Tag die Nacht nach Westen hin verdrängt.










Ab jetzt wird es gemein. Gemein deshalb, weil es beim Einstieg in den Nordwestgrat irgendwie den Anschein macht, als ob es nicht mehr allzu weit sei. Ich weigere mich dennoch wie schon am Dom, den Höhenmesser zu konsultieren. Aber es zieht sich saumässig. Beim Aufstieg über den Nordwestgrat wechseln sich Schnee und Fels immer wieder ab, es ist steil und wir kraxeln mithilfe von Pickel und Frontzacken auf allen vieren hoch. Ich muss jetzt häufiger eine Verschnaufpause einlegen, die Luft ist dünn.




Bis zum Gipfel fehlt nicht mehr allzu viel, jetzt beissen wir durch. Die nächste steile Passage ist dank des festen Schnees technisch einfach zu meistern. Aber anstrengend ist’s trotzdem.



Die abschliessende Felskletterei hätte ich mir nie zugetraut, aber mit der Übung der letzten Tage geht das schon recht locker. Auch das Balancieren über teils sehr schmale Stellen ist reine Konzentrationssache – und dabei bloss nicht nach unten schauen. So kommen wir dem ganz grossen Ziel näher und näher.
Ja und dann, um 08.39 Uhr haben wir es geschafft: DUFOURSPITZE! Plötzlich ging es ganz schnell. JUHUI!!! Ein gewaltiger Augenblick! Wir sind überglücklich und geniessen die Aussicht auf alle darunterliegenden Gipfel (der höhere Mont Blanc ist ja weit weg), alles scheint so klein, das Gornergrat gefühlte 5000 Meter unter uns. WOW!





Eine Gipfelbesteigung ist bekanntlich erst dann erfolgreich, wenn auch der Abstieg gelungen ist. Und der hat es in sich. Wir bzw. Hajo wählt den Weg hinunter zum Silbersattel. Das fordert uns alle nochmals extrem. Was eine erfahrene Zweierseilschaft wohl problemlos in unter 15 Minuten schafft, dauert bei uns rund viermal so lange. Aber Hauptsache wir kommen gesund unten an.




Ab dem Silbersattel ist es bis auf die Spaltenzone, welche uns heute früh etwas aus dem Takt warf, absolut kein Problem mehr. Mir macht da die je länger desto stärker heizende Sonne viel mehr zu schaffen. Fast zwei Stunden dauert der Abstieg über den Monte-Rosa-Gletscher, bis wir auf der „Obere Plattje“ ankommen und auf’s Geröll wechseln.


Wir nehmen uns vor dem letzten Teil der Tour bis zur Monte-Rosa-Hütte die Zeit, um dem Körper Energie in Form von Schoggi und Rivella zuzuführen. Schliesslich sind wir nun schon neuneinhalb Stunden unterwegs und ich langsam am Ende meiner Kräfte.


Nach 10 Stunden und 10 Minuten sind wir zurück, wo heute um halb drei alles begann. Ich kann es noch nicht richtig glauben, was wir zusammen da vollbracht haben und schaue immer wieder hoch zur Dufourspitze. Wird wohl noch etwas dauern, diesen Erfolg richtig einzuordnen.
Interessanterweise habe ich keinen grossen Appetit, geniesse trotzdem ein Stück Apfelwähe, ehe ich den Rucksack mit dem zurückgelassenen Material belade. Wir können uns nämlich noch nicht auf die faule Haut legen, denn wir wollen gleich weiterziehen bis zur Station Rotenboden, von wo wir mit dem Zug runter nach Zermatt und danach nach Hause fahren. Hajo und Oli verlassen uns hier in Monte-Rosa-Hütte, sie beide sind noch voller Energie und deshalb sicher schneller unterwegs. Mein Bruder und ich nehmen es gemütlicher und erreichen um 17 Uhr Rotenboden, wo wir die Hochtouren-Woche erfolgreich abschliessen.

Tagesfacts: Aufstieg 2190 hm, Abstieg 2170 hm, Distanz 20 km, Gehzeit mit Pausen 13:30h
Wochenfacts: Aufstieg 7000 hm, Abstieg 8290 hm, Distanz 66 km, Gehzeit mit Pausen 40h
